Sieben Stunden, achtzehn Eingaben, viele Augen und Ohren. Der P1-Wiederaufbau des Chemiewerks Schill+Seilacher in Pirna Neundorf bewegt noch immer die Gemüter. Besonders jetzt: Am 6. Dezember versammelten sich im Rathaus unter den Augen von Pirnaer Bürgern Vertreter von Landratsamt, Landesamt für Umwelt, Stadtverwaltung und der Firma, um Fragen zum Sicherheitskonzept der Anlage zu beantworten, Zweifel auszuräumen. Der nächste Akt im Genehmigungsverfahren seit einer Einwohnerversammlung am 18. Oktober. „Unsere Nachbarn in Neundorf, einige waren ja auch bei der Anhörung, können wirklich sicher sein, dass wir alles unternehmen, um die P1 für Anwohner und Mitarbeiter so sicher wie nur irgend möglich zu machen“, sagte Dr. Uwe Dittrich, Betriebsleiter bei Schill+Seilacher. Dreh- und Angelpunkt aber war die Frage: Wird ein Unglück wie jenes vom 4. Dezember 2014 künftig vermeidbar sein?
Damals stirbt bei einer Explosion im Chemiewerk Schill+Seilacher ein Produktionsleiter, vier Arbeiter werden schwer verletzt, Trümmer der P1-Anlage pflügen die Gärten angrenzender Grundstücke um. „Menschliches Versagen“ steht erst Monate später im offiziellen Gutachten der Staatsanwaltschaft. Die Landesdirektion Sachsen entzieht der Firma vorerst die Produktionslizenz. Das Werk steht still, wird von oben bis unten einer sicherheitstechnischen Prüfung unterzogen. Firmenvorstand und Stadtverwaltung bemühen sich Mitte Dezember 2014 bei einer ersten Bürgerversammlung um Schadensbegrenzung. Das Vertrauen ist stark belastet, Grundsatzdebatten werden geführt. Kernthemen: Standort und Sicherheit. Schnell wird klar: Schill+Seilacher will das Areal im Pirnaer Stadtteil Neundorf nicht räumen, aus wirtschaftlichen und personellen Gründen. Im Mai 2015 kann die Chemiefabrik einen eingeschränkten Betrieb aufnehmen. Das Produkt, welches die Explosion verursachte, wird nicht mehr hergestellt. Knapp zwei Jahre später kündigt das Werk den Wiederaufbau seiner Produktionsstrecke 1 an. Ohne diese Anlage sei der Standort Pirna nicht wirtschaftlich zu betreiben, sagt Rüdiger Ackermann, Geschäftsführer, im März dieses Jahres. Aus dem Rathaus hagelt es Kritik: Bedenken zur Sicherheit, Transparenz und Bürgerbeteiligung seien nicht ausreichend gewürdigt, verbale Zusicherungen des Unternehmens genügten nicht. Das Genehmigungsverfahren geriert zum Zankapfel – in einem offenen Brief an Oberbürgermeister und Stadträte protestiert die Firmenbelegschaft gegen das „leichtfertige“ Vorgehen der Stadt, empfindliche Entscheidungsfragen an Schill+Seilacher vorbeilanciert zu haben. Es ginge schließlich auch um die Zukunft ihrer Mitarbeiter, nur eine „Handvoll Stadträte“ habe sich für das neue Sicherheitskonzept für P1 interessiert. Am 6. April fällt die Entscheidung. Nach Stunden hitziger Debatten im Stadtentwicklungsausschuss steht fest: Schill+Seilacher bekommt sein „Ok“ für den Wiederaufbau der Anlage. Alle Forderungen, Hinweise und Empfehlungen des Sicherheitstechnischen Gutachtens vom Dezember 2016 müssen nachweislich samt und sonders umgesetzt werden. Besonderer Augenmerk liegt dabei auf der Gebäudehülle – sie muss auch im Extremfall einer Havarie standhalten können.
Die Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens ist ein hart erkämpfter Etappensieg für das Chemiewerk. Auch jetzt, kurz nach der Anhörung zur konkreten Umsetzung des neuen Baukonzepts am 6. Dezember. Viel hat sich Schill+Seilacher vorgenommen. Wie bereits auf der Einwohnerversammlung im Oktober bekanntgegeben, sollen die fünf Rührbehälter der neuen P1 eine explosionssichere Stahlbetonummantelung mit 35 Druckableitungsklappen plus Stahlnetzen erhalten. 30 chemische Stoffe werden in der künftigen Produktion nicht mehr eingesetzt. Falls der Strom ausfällt, soll die Anlage über eine unabhängige Stromversorgung binnen zehn Minuten heruntergefahren werden können. Eine Gaswarnanlage soll bei Ausfall der Lüftung ein optisches und akustisches Signal auslösen. Eine simultane Havarie aller fünf Rührbehälter schließt das Unternehmen als „absolut unwahrscheinlich“ aus. Für den Fall einer Störung liege ein Sicherheitskonzept zum Einsatz von Feuerwehr, medizinischem Personal und THW vor.
Über eine Abluftreinigungsanlage sollen Schadstoffe im mehrstufigen Reinigungsprozess aus der Luft „gewaschen“ werden. Die Frage, ob diese Abluft Ekel oder gar Übelkeit errege und sich nachteilig auf die Umwelt auswirke, wurde verneint. Auch an der anderen Grundsatzfrage kam Dr. Dittrich nicht vorbei. Schill+Seilacher gibt sich nach wie vor standorttreu. Schließlich sei das historisch so gewachsen. „Seit dem Jahre 1914 ist das Areal ein Chemieindustriestandort, und damit hat unser Betrieb Bestandsschutz, “ so der Betriebsleiter. Gebeutelt, aber zufrieden sei man aus der sieben Stunden währenden Sitzung gegangen. Schill+Seilacher will weiterhin auf ein „gutes Miteinander“ und „transparente Informationspolitik“ setzen. Für ein „Ja“ auf die Eingangsfrage, mit dem Restrisiko im Hinterkopf.